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Tatarinov (Òàòàðèíîâ) Ó÷åáíèê íåìåöêîãî äëÿ ñòóäåíòîâ èñòîðèêîâ (3-4 êóðñ)

Teil I

Methodologie und Theorie der Geschichtswissenschaft

Lektion 1. Geschichte als Wissenschaft

Historisches und theoretisches Wissen:

Zu den begrifflichen Voraussetzungen,

die für den Gegensatz verantwortlich sind

(Nach J. Meran, 1985)

Die gegenwärtige Debatte über die Theoriefähigkeit der Historie gehört zu jener Art wissenschaftstheoretischen Diskussion, in der nicht selten altherge­brachte Argumente in allenfalls neuem Sprachgewand vertreten werden. Es ist daher zunächst erforderlich, sich den traditionellen Gegensatz von Historie und Theorie im Einzelnen zu vergegenwärtigen. Häufiger als das Wort 'Historie' verwenden wir im Deutschen das Wort 'Geschichte', um damit sowohl ein re­ales Geschehen als auch die Darstellung (Historie) dieses Geschehens zu bezei­chnen. Die keineswegs zufällige Zweideutigkeit dieses Begriffs 'Geschichte' im Auge behaltend, betrachten wir zuerst die Bedeutung von Geschichte als realem Geschehen.

1. Die Bedeutungen des Begriffs 'Geschichte' als reales Geschehen 1.1. Geschichte steht für die konkreten 'res factae'

Das Wort 'Geschichte' können wir aus der Etymologie von 'geschehen' ab­leiten. Im Althochdeutschen bedeutet 'scehan' soviel wie 'sich ereignen', insbe­sondere 'sich plötzlich wenden' oder einfach 'entstehen', 'werden'. Was in dieser Weise passiert, heißt substantiviert auch 'ein geschehen ding' oder 'geschieht'. Vor allen spezifischeren Bedeutungsunterschieden dieser Synonyma steht 'Ge-


schichte' also zunächst und im allgemeinsten Sinn des Wortes für das, was ge­schieht. Genauer ist damit aber gemeint, dass Geschichte nicht in dem bloß möglichen oder erdachten, sondern in dem wirklichen oder faktischen Verlauf eines Geschehens besteht. Mit den einprägsamen Worten einer seit dem Mitt­elalter immer wieder verwendeten Formel steht 'Geschichte' näherhin für die von den 'res fictae', dem erdachten und konstruierten Geschehen unterschiede­nen 'res factae', für das tatsächliche, wirkliche Geschehen. Unter einem wirkli­chen Geschichtsgeschehen verstehen wir eine Reihe räumlich und zeitlich fixierter Begebenheiten, Ereignisse, Vorgänge in der Welt. Solche realen Ge­schehnisse zeigen nach den Worten J. Huizingas eine "greifbar deutliche Form", tragen "scharf umrissene Züge", sie lassen sich sozusagen "malen und prägen sich dem Gedächtnis ein". Sie besitzen also auch in der Weise Form und Gestalt, dass sie sich immer wieder zu gleichsam epischen Bildern oder dramatischen Szenen verdichten. Deswegen steht 'Geschichte' auch für das an­schauliche, konkrete Geschehen.

1.2. Geschichte als vergangenes und allzeitliches Geschehen

Die Geschichte umfasst nun entweder nur das vergangene Geschehen oder aber sowohl das, was in der Vergangenheit geschehen ist, was gegenwärtig geschieht aber auch das, was in der Zukunft geschehen wird. Im ersten Fall ist ein geschichtliches Geschehen nur in der Weise veränderlich, dass es zuneh­mend von der Gegenwart zurückweicht, immer tiefer in die Vergangenheit ein­taucht. Geschichtliche Ereignisse der Vergangenheit unterliegen weder in ihrer Reihenfolge noch in ihrer Faktizität einer Modifikation. Demgegenüber erweist sich das zukünftige Geschichtsgeschehen in jeder Hinsicht als veränderlich und offen, enthält es doch die Menge aller möglichen, zumindest aller nicht durch die Wirkungen vergangener Geschehnisse bereits ausgeschiedenen Ereignisse. Da uns aber die ganze, Vergangenheit und Zukunft einschließende, omnitem-porale Geschichte nicht faktisch gegeben ist, bleibt sie allenfalls eine regulative Idee.

1.3. Geschichte als unumkehrbares und unwiederholbares Geschehen

Von allem Geschehen können wir stets auch sagen, dass es sich in der Zeit vollzieht, d.h. dauert. Seine Zeitlichkeit erfahren wir allerdings nur dadurch, dass das, was geschieht, sich verändert, indem es Anfang und Ende hat und von unterschiedlicher Dauer ist. "Es ist das Erlebnis der Zeit, welches bei ununter­brochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht", - bemerkt Th. Mann in seinem Exkurs über den Zeitsinn. Ohne Veränderung gäbe es also für uns keine Zeit. Wenn Geschichte das ist, was geschieht, alles Geschehen aber in der Zeit verläuft, Zeit wiederum nur durch Veränderung besteht, so ist Geschichte auch das, was sich verändert.

Können wir aber auch umgekehrt sagen, dass alles, was sich verändert,


auch geschichtlich ist? Im ersten Fall würden wir Veränderung nur als eine notwendige Bedingung von Geschichte, mithin Geschichte nur als einen Teil des Geschehens in der Zeit, im zweiten Fall aber Veränderung als eine hin­reichende Bedingung von Geschichte, mithin Geschichte als die Gesamtheit des Geschehens in der Zeit betrachten. In diesem letzten Sinne hätte dann auch die Natur eine Geschichte, denn sie verläuft und verändert sich ja in der Zeit. In welcher Weise Veränderung nun Bedingung von Geschichte ist, hängt of­fenbar davon ab, ob wir verschiedene Arten von Veränderung unterscheiden können. Welcher Art von Veränderung erkennt die traditionelle Auffassung aber geschichtliche Qualität zu?

Nun wird jede Veränderung im Hinblick auf eine Zeitordnung und ein Zeit­maß bestimmt. So können Veränderungen auf zweierlei Weise zeitlich geord­net sein: (1) indem die verschiedenen Zustände eines Geschehens nach den asymmetrischen Beziehungen 'früher als', 'gleichzeitig mit' und 'später als' geordnet werden; (2) indem die verschiedenen Zustände eines Geschehens als 'vergangen', 'gegenwärtig' oder 'zukünftig' bezeichnet werden. Im ersten Fall ist die Zeitordnung in dem Sinne unveränderlich, dass ein Zustand, der früher als ein anderer ist, nicht später sein kann als dieser und umgekehrt, bzw. dass von drei Zeitpunkten einer stets zwischen den beiden anderen liegt. Daraus ergibt sich eine, wenn auch einfache Richtung der Zeit. Nicht festgelegt ist damit, ob ein Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt (der zwar früher oder später als ein anderer sein kann) tatsächlich schon eingetreten ist, jetzt gerade eintritt oder noch nicht eingetreten ist. Dies lässt sich erst im Hinblick auf die zweite Zeit­ordnung ausmachen, in der der Bezug auf eine jeweilige Gegenwart wesentlich ist und einen eindeutigen Sinn bekommt. In dieser Zeitordnung 'fließt' die Zeit aus der Vergangenheit in Richtung auf die Zukunft. Ein geschichtliches Ge­schehen ist nun im Hinblick auf die ihm zu Grunde liegende Zeitordnung ein solches, das gemäß der zweiten topologischen Struktur der Zeit (Vergangen­heit-Gegenwart-Zukunft) unumkehrbar gerichtet ist und damit sich unwider­ruflich verändert.

Die zeitliche Messung einer Veränderung erfolgt in der Weise, dass man sie mit einer anderen Veränderung (die man zu diesem Zweck als elementarer ansieht), vergleicht. Unter dem Gesichtspunkt ihres Verlaufs lassen sich aber aus der Vielfalt der Veränderungen vier Formen unterscheiden, die als Maßstab dienen: (1) Ein Geschehen verändert sich gleichförmig oder kontinuierlich, wenn es während gleicher Zeitspannen (-intervalle) gleiche Zustandsänderun-gen vollzieht. In dieser Weise hatte die Antike die ewige Bewegung der Him­melskugel als Zeitmaß ausgezeichnet. (2) Ein Geschehen verändert sich un­gleichförmig oder diskontinuierlich, wenn es während gleicher Zeitintervalle ungleiche Zustandsänderungen vollzieht. In dieser Weise hatte der Darwinis­mus die biologische Evolution der Arten als einen Zeitmaßstab ausgezeichnet. (3) Ein Geschehen verändert sich periodisch oder repititiv, wenn es bestimmte Aufeinanderfolge von Zuständen immer wieder durchläuft. In dieser Weise hat­te die klassische Dynamik die Pendelschwingung als Zeitmaß ausgezeichnet.


(4) Ein Geschehen verändert sich monoton oder linear, wenn es eine bestimmte Aufeinanderfolge von Zuständen nur einmal durchläuft. In dieser Weise zeich­net die Kosmologie die Entropie des Weltalls ein Zeitmaß aus. Es bildet nun genau dasjenige temporale Verständnis von Geschichte eine Voraussetzung für den Gegensatz von historischem und theoretischem Wissen, welches ein ge­schichtliches Geschehen nach der ersten und vierten metrischen Struktur der Zeit auffasst. Als Geschichte bezeichnet es folglich ein Geschehen, das sich kontinuierlich und linear verändert, das also ein stetig sich entwickelndes und einmaliges Geschehen ist. In diesem Sinne charakterisierte etwa J.G. Droysen die Geschichte als "stetes Werden", "steigernde Weiterführang", "rastloses Fortschreiten" u.Ä. Freilich bestehen neben dieser seit der Entfaltung der mo­dernen Geschichtswissenschaft dominierenden Auffassung auch Konzepte von Geschichte, in denen das geschichtliche Geschehen als periodisch wieder­kehrendes oder chaotisch diskontinuierliches gesehen wird. Gerade in der Epo­che, in der sich das Entwicklungsdenken in der Historie durchsetzte, haben be­deutende Autoren immer wieder versucht, den antiken Gedanken von der ewi­gen Wiederkehr des Gleichen zu beleben.

So bemerkte Goethe: "Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug.., sie hat ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend zurück, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer". Für Fr. Schlegel galt das "ontologische Gesetz... des ewigen Kreislaufs... für die einzelnen Gedanken der einzelnen Geister, wie für die Entwicklung ganzer Nationen, Geschlechter und Zeitalter". J.G. Fichte äußerte in seinen "Grund­zügen des gegenwärtigen Zeitalters" (1808), dass "der gesamte Weg aber, den... die Menschheit hinieden macht, nichts anderes als ein Zurückgehen zu dem Punkte ist, auf welchem sie gleich anfangs stand". Am umfassendsten ent­wickelte schließlich Fr. Nietzsche den ethischen ("Die Fröhliche Wissen­schaft", 1882) und geschichtsphilosophischen Gedanken ("Also sprach Zara-thustra", 1883-91) der ewigen Wiederkehr des Gleichen. In einer vom Indivi­dualismus geprägten Geschichtsauffassung fand sich die eher pessimistische Überzeugung, dass die "Weltgeschichte wie ein Chaos zufälliger Ereignisse [aussieht], - im Ganzen ein Durcheinander wie die Wirbel einer Wasserflut. Es geht immer weiter, von einer Verwirrung in die andere, von einem Unheil in das andere, mit kurzen Lichtblicken des Glücks, mit Inseln, die vom Strom eine Weile verschont bleiben, bis auch sie überflutet werden...". Schon bei J. Burck-hardt kündigte sich in der Metapher vom "Wellenmeer der Weltgeschichte" eine Grundorientierung an, die M. Weber für seine historische Sozialwissen-Schaft präsent hielt. Er sprach vom "stets gleich unendlichen Strom des Indivi­duellen" und vom "ungeheuren chaotischen Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt".


1.4. Geschichte - Geschehnisse von einzigartigem Wert

Dem temporalen Aspekt der Unumkehrbarkeit und Nichtwiederholbarkeit des geschichtlichen Geschehens entspricht nach herkömmlichem Verständnis ein qualitativer Aspekt geschichtlicher Veränderung. Danach unterscheiden sich zwei historische Ereignisse nicht nur in ihrer temporalen Punktualität, durch die sie innerhalb unseres Zeitsystems an verschiedenen Stellen verortet sind, sondern auch in ihrer inhaltlichen Beschaffenheit, durch die sie innerhalb des ganzen Geschichtsgeschehens einzigartig und unverwechselbar werden. Die eine Schlacht fand um 1410, die andere um 1914 bei Tannenberg statt; bei­des waren Schlachten, beide fanden am selben Ort statt, in beiden trafen die gleichen Völker aufeinander, gleichwohl waren sie von ungleicher Beschaffen­heit. Ein geschichtliches Geschehen ist daher auch in dem Sinne individuell, dass es einzigartig ist. Dem Gedanken von der temporalen und qualitativen In­dividualität des geschichtlichen Geschehens gewann die historistische Ge­schichtsschreibung näherhin den normativen Standpunkt ab, dass jede histo­rische Erscheinung ihr eigenes Daseinsrecht und ihre eigene Vollkommenheit besitzen muss. Jedes geschichtliche Geschehen trägt daher seinen eigenen, kei­nem allgemeinverbindlichen und unveränderlichen Richtmaß zugänglichen Wert in sich.

1.5. Geschichte als Tat

Wenn Geschichte ein Geschehen ist, das sich auf irreversible, einmalige und einzigartige Weise verändert, ist sodann zu fragen, wodurch eine solche Art von Veränderung zustande kommt. In seiner allgemeinen Wendung als sich in der Zeit vollziehendes Geschehen trägt das Wort 'Geschichte' sowohl eine aktive als auch passive Bedeutung. Wortgeschichtlich ergibt sich der aktive Sinn aus der Übersetzung der gebräuchlichsten Wörter, die das Lateinische zur Bezeichnung der realen Geschehnisse besitzt, nämlich 'res factae', 'facta', 'res gestae', 'gesta', 'acta' etc. Hierfür findet sich im Deutschen der zusammenfas­sende Ausdruck 'die Geschichten'. Das Wort 'Geschichte' steht also für ein von Menschen hervorgebrachtes, gemachtes Geschehen. Zwar findet jede Tat, jedes Werk zweifellos zugleich als ein innerweltliches Ereignis statt, doch wird hier der ereignishafte Aspekt des geschichtlichen Geschehens zu Gunsten des tat­haften Aspekts ausgeblendet, unter dem geschichtliche Vorgänge als Akte des Bauens, Schaffens, Produzierens, freilich auch des Abreißens, Zerstörens, Mo-difizierens erscheinen. Deswegen ist Geschichte auch das, was getan wird.

1.6. Geschichte als 'Widerfahrnis'

Der passive Sinn von 'Geschichte' tritt besonders an dem meist nur mit ei­ner Vorsilbe verbundenen (ahd) Substantiv 'gisciht' hervor, das ein Ereignis, ei­nen Hergang, eine Begebenheit genauer als ein solches Geschehen charakte-


risiert, welches entweder durch uneinsehbare Schickung oder durch blinden Zufall eintritt. Während mit dem (nicht vom Menschen, sondern) von Gott, der Natur, einem Weltgeist etc. herrührenden Schicksal bzw. mit dem zwar vom Menschen initiierten, aber dann außer Kontrolle geratenen 'Machsal' ein leben­diges, unvermeidliches Los gemeint ist, tritt der blinde Zufall eher als unerwar­teter, plötzlicher Schicksalsschlag auf. Gemeinsam ist aber sowohl dem schick­salhaften wie auch zufälligen Geschehen, dass es einfach passiert, uns unver-fiigbar trifft und überkommt, also gerade nicht von uns gewählt, gemacht, be-einflusst werden kann. Bekannt sind Metaphern der orientierungslosen Irrfahrt, des reißenden Stromes, der auf einer Welle dahintreibenden Schiffbrüchigen, die das geschichtliche Geschehen veranschaulichen sollen, insofern es eben einfach passiert, uns zustößt, überkommt und keine handelnde Einflussnahme zulässt. Hier gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Deswe­gen ist Geschichte auch das, was einem widerfährt.

1.7. Geschichte als zufälliges Geschehen

In dieser letzten Bedeutung erweist sich das Wort 'Geschichte' als Über­setzung des lateinischen 'casus', das eine Angelegenheit, einen Vorfall, Zufall oder den Eintritt oder Ausgang eines solchen Geschehens meint. Kennzeich­nend für diese Art von Geschehen ist, dass es auf momenthafte, gegenwärtige oder kurz vorhergegangene Begebenheiten beschränkt ist; dass es an einen ver­einzelten Schauplatz und wenige Betroffene gebunden bleibt; dass es somit auf keinen übergreifenden Zusammenhang verweist, der es erlauben würde, ge­schichtliche Geschehnisse aus den Erfahrungen der Vergangenheit und den Er­wartungen für die Zukunft ableiten zu können. Geschichte ist daher auch das, was durch Zufall geschieht.

1.8. Von den vielen Geschichten zu der einen Geschichte

Bei der vorangegangenem Zusammenstellung der Merkmale von Geschich­te blieb bisher eine Unterscheidung unbehandelt, die für die Frage nach der Vereinbarkeit von Historie und Theorie von großer Wichtigkeit ist. Es handelt sich um die schon kurz angemerkte Differenz zwischen den Geschichten und der Geschichte. Der Ausdruck 'Geschichten' bezeichnet die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geläufige Pluralform der Singularformen 'das geschichte' und 'die geschieht'. Die Geschichte bestand also früher aus einer Summe von Ein-zelgeschichten. Diese waren charakterisiert durch den Bezug auf das konkrete Subjekt einer Person, einer Gruppe, einer Institution etc. und durch ihre exem­plarische Bedeutung, die es erlaubte, aus den vielen ähnlichen Geschichten zu lernen. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich gegenüber diesen episo­denhaften und unverbundenen Geschichten der Gedanke einer diese Einzelge­schichten so untereinander verbindenden Geschichte durch, dass darin die ge­meinsamen Eigenschaften aller Geschichten überhaupt zusammengefasst wer-


den konnten. Terminologisch kam dieser Tatbestand in Wendungen wie 'die Geschichte an sich', 'als solche', 'selbst', 'schlechthin' usw. zum Ausdruck. Mit dieser Geschichte im Kollektivsingular sollte also ein die einzelnen geschicht­lichen Tatsachen übergreifender Zusammenhang geschichtlicher Veränderung erfasst werden. Sie war damit nicht mehr die begrenzte Geschichte von etwas oder jemandem, sondern die Geschichte wurde sowohl zu ihrem eigenen Subj­ekt, zum eigenständigen Agens, als auch zur Bedingung der Möglichkeit aller Einzelgeschichten. Diese, wie Droysen sich später ausdrückte, "über den Ge­schichten" waltende "Geschichte" brachte somit nichts anderes als die neuzeit­lichen Erfahrungen der "Veränderlichkeit, (der) Beschleunigung, (der) offenen Zukunft, (der) revolutionären Trends und ihrer überraschenden Einmaligkeit, (der) sich überholenden Modernität" auf ihren Begriff. Indem W.v. Humboldt vom Geschichtsschreiber verlangte, dass er "jede Begebenheit als Teil eines Ganzen, oder, was dasselbe ist, an jeder die Form der Geschichte überhaupt darstellen" sollte, verwies er auf eine theoretische Anstrengung, der sich die Historie nunmehr zu unterziehen hatte.

2. Die Bedeutungen des Begriffs 'Geschichte' als Darstellung eines Ge­schehens

2.1. Geschichte als gewusstes und erinnerungswertes Geschehen

Durch die mittelhochdeutsche Übersetzung des lateinischen 'historia' erhält das Wort 'Geschichte' auch die Bedeutung von Geschichtsdarstellung. Denn 'historia', seinerseits ein griechisches Lehnwort, meint in erster Linie die ge­dankliche Aneignung und Verarbeitung von Geschehnissen durch Erforschung, Wissen und Darstellung. Demgemäß steht das in die deutsche Schreibweise übertragene 'historje' als Sammelname für Quellen aller Art (buoch, liet, maere, schritt, rede), bedeutet also Geschichtsschreibung, Geschichtserzählung, Ge­schichtsbuch, wobei der Forschungsaspekt von 'historia' zunächst kaum über­nommen wird. Seit dem 18. Jahrhundert kommt es jedoch zu der schon kurz erläuterten, allmählichen Verschmelzung von 'Historie' und 'Geschichte', so dass unter Berücksichtigung der angedeuteten Pluralbildung mit 'Historien' auch die Ereignisse, mit 'Geschichte' auch die Darstellungen gemeint sein können. Stößt man also auf Redewendungen wie die von den 'lehrreichen und nützlichen Geschichten', den 'deutschen Geschichten' oder den 'historien und geschichten der alten Vorfahren' etc., so liegen Fälle der Wiedergabe des Wor­tes 'Historie' durch das Wort 'Geschichte' vor. Dieser begriffsgeschichtliche Vorgang lässt sich im Lichte der überkommenen Trennung von 'historia' und 'res factae' (= historiae) auch so deuten, dass historische Darstellung zur ge­schichtlichen Realität erklärt wird. Geschehnisse sind nicht mehr in ihrer Wirk­lichkeit, sondern nur noch als erforschte, gewusste und dargestellte geschicht­lich fassbar. Geschichte gewinnt nur in der Weise Realität, wie sie kognitiv, sei es in der Erinnerung von Vergangenem, sei es in der Erwartung von Zukünf-


tigem gegenwärtig ist. Geschichte ist, wie Droysen sagt, "das Wissen ihrer selbst". Das Wort 'Geschichte' steht für das gewusste Geschehen, das uns im Hinblick auf unsere gegenwärtigen Interessen entweder als erinnerungswert oder überholt erscheint.

2.2. Geschichte als chronologisch geordnetes und erzählend dargestelltes Geschehen

Die Assimilation von Geschichte an Historie hat noch die weitere Konse­quenz, dass Geschichte in den Einflussbereich der methodischen Prinzipien der Historie gerät. Ursprünglich waren es diejenigen Prinzipien, die die 'historia' als eine gegenüber der Dichtung ('poesia') eigenständige Darstellungsgattung auszeichneten. Da die Historie als propädeutische Kunst bis ins 18. Jahrhundert weitgehend der humanistischen Rhetorik angehörte, sind es vor allem die in der Rhetorik getroffenen, kanonischen Unterscheidungen gewesen, die auf diesem Wege der Angleichung von Geschichte an Historie dem geschichtlichen Ge­genstandsbereich seine Form gaben. Grundlegend war hierbei die für die An­ordnung (dispositio) des zu traktierenden Stoffes maßgebliche Unterscheidung zwischen dem auf die künstlerische Sinnstiftung ausgehenden 'ordo artificialis' und dem die zeitliche Aufeinanderfolge bloß verzeichnenden 'ordo naturalis'. In Erfüllung ihrer Aufgabe, zu berichten, was wirklich geschehen war, ver­pflichtete man folglich die Historie dazu, die Geschehnisse rein in ihrem zeit­lichen Nacheinander zu rekonstruieren. Nur so konnte sie den Gang der Dinge ohne Pathos und affekterregende Mittel ('sine ira et studio') darstellen. Die Geschichte ist daher auch das chronologisch geordnete und erzählend dar­gestellte Geschehen.

Texterläuterungen

1. Phonetik

       chaotisch [ka|'o:ti] õàîòè÷åñêèé, õàîòè÷íûé

       das Chaos ['ka:os] 1. ìèô. õàîñ 2. õàîñ, íåðàçáåðèõà

       für den Gegensatz = für diesen Gegensatz çà ýòó/äàííóþ äèõîòîìèþ

       die Historie [his'to:riə] èñòîðèÿ

       Huizinga ['hœyziŋx«a∙] Õ¸éçèíãà

       initiieren [initsi|'i:rən] 1. èíèöèèðîâàòü 2. ïðèíÿòü (â îáùåñòâî, ñî­
þç), ïîñâÿòèòü 3. ââåñòè â äîëæíîñòü

       kontinuierlich [kontinu|'i:rliç] íåïðåðûâíûé

       in dem Sinne, dass... â òîì ñìûñëå, ÷òî...

       in der Weise = in dieser Weise â òàêîì/òîì ñìûñëå, â òàêîì âèäå,
òàêèì îáðàçîì, òàêèì ñïîñîáîì (íî ñð. â ýòîì æå òåêñòå: in dieser
Weise òàêèì îáðàçîì, in welcher Weise êàêèì îáðàçîì, auf zweierlei
weise äâîÿêèì îáðàçîì)